Das
Leben der Dienstmagd Anna Göldin und ihre soziale Stellung waren
chrakteristisch für jene Zeit. Sie stammte aus ärmlicher Herkunft, ihr
Vater starb früh. Eine Schule hatte sie nur sporadisch besucht, konnte
zwar notdürftig lesen, aber nicht schreiben. Im Alter von 14 Jahren kam
sie als Magd auf einen armseligen Bauernhof. In den folgenden Jahren
blieb sie unverheiratet, in ständiger Abhängigkeit vom jeweiligen
Dienstherrn. 1780 trat die mittlerweile über Vierzigjährige ihre letzte
Stelle bei einer angesehenen Arztfamilie an.
Die Frau des Arztes
war Anna Göldin nicht wohlgesonnen, zu verschieden waren die beiden
Frauen. Anna war unabhängig, gesund, kräftig und eine stattliche
Erscheinung, derer sie sich wohl bewusst war.
Frau „Tschudi“, so
der Name der sozial weit höher stehenden Familie, kränkelte ständig. Als
Sechzehnjährige war sie zum ersten Mal schwanger geworden. Von da an
wechselten sich unablässig Schwangerschaften und Geburten ab – zehn
Kinder hatte die Arztgattin geboren, von denen fünf überlebten.
Anna
ist bereits über ein Jahr bei den Tschudis, als ein banaler Streit der
Kinder zum Auslöser für die weiteren tragischen Vorfälle wird,
deretwegen die Göldin der Hexerei beschuldigt wird: Eines der Kinder,
Anna Migeli, findet eine Stecknadel in ihrer Frühstücksmilch. Was zuerst
nicht ernst genommen wird, wiederholt sich immer wieder. Im Oktober
1781 wird Anna Göldin des Hauses verwiesen, wogegen sie sich wehrt. Doch
all ihre Versuche, Gerechtigtkeit von den obersten Stellen zu erfahren,
scheitern.
Das Wort
einer einfachen Magd steht gegen das einer angesehenen Familie. Anna
Migeli hat weiterhin Anfälle, Zuckungen, und sie „spuckt Nadeln“. In
Windeseile verbreitet sich das Gerücht, dass die Magd für diese
eigenartigen Vorfälle verantwortlich sei, zumal bekannt wird, dass Anna
Göldin bereits früher wegen Kindsmord angeklagt worden ist: Ihr
Neugeborenes war unter der Bettdecke erstickt. Im Prozess gegen einen
bornierten, frauenverachtenden Justizapparat hatte die alleinstehende
Frau keine Chance. Zumal sich die Angelegenheit zu einer
machtpolitischen Auseinandersetzung der ansässigen Provinzgroßbürger
auswuchs. Anna Göldin wird im Juni 1782 durch das Schwert hingerichtet.
Der Roman „Anna Göldin – Letzte Hexe“ der Historikerin Eveline Hasler
zählt nach über zwanzig Jahren noch immer zu den berührendsten und
spannendsten Büchern zum Thema Hexenverfolgung. Er schildert nicht nur
die Chronik des letzten Hexenprozesses in der Schweiz, sondern gibt
darüber hinaus ein aufschlussreiches Bild der damaligen Zeit, der
Gesellschaft und der Stellung der Frau. Der Hexenprozess gegen die
Dienstmagd Anna Göldin, einer schönen und eigenwilligen Frau, fand eine
große Öffentlichkeit und steht wohl stellvertretend für viele ähnliche
Schicksale über die Schweizer Grenzen hinaus.
Eveline Hasler
gelingt es anhand von Zitaten aus Gerichtsakten und zeitgenössischen
Dokumenten sowie mit der altertümlichen Sprache, in der sie den Roman
verfasst hat, die Atmosphäre der damalige Zeit vor dem Auge des Lesers
entstehen zu lassen. Sie zeigt auf, dass unter dem Deckmantel des Rechts
jegliches Recht missachtet wird. In Zusammenhang mit dem Prozess wurde
zum ersten Mal auch der Begiff „Justizmord“ verwendet.
Das Buch
vermittelt viel mehr als nur die bewegende Geschichte einer „modernen“
Frau des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Grundthema kann auf andere
Epochen bis in die Jetztzeit übertragen werden: Innere Unabhängigkeit
von geläufigen Meinungen, Anderssein und Außenseitertum stoßen heute
noch auf mangelnde Akzeptanz und werden auf verschiedene Weise bestraft.
Frauenverachtung und bürgerliche Selbstherrlichkeit sind auch heute
noch anzutreffen.
Mich hat der Roman teilweise tief betroffen gemacht und verstört! Aber ich fand ihn sehr lesenswert.
Da hast du an einem Abend gleich zwei hervorragende Buchbesprechungen geschrieben, danke!
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