Samstag, 18. Juni 2016

Eveline Hasler: Anna Göldin/ Letzte Hexe (dtv)

Das Leben der Dienstmagd Anna Göldin und ihre soziale Stellung waren chrakteristisch für jene Zeit. Sie stammte aus ärmlicher Herkunft, ihr Vater starb früh. Eine Schule hatte sie nur sporadisch besucht, konnte zwar notdürftig lesen, aber nicht schreiben. Im Alter von 14 Jahren kam sie als Magd auf einen armseligen Bauernhof. In den folgenden Jahren blieb sie unverheiratet, in ständiger Abhängigkeit vom jeweiligen Dienstherrn. 1780 trat die mittlerweile über Vierzigjährige ihre letzte Stelle bei einer angesehenen Arztfamilie an.
Die Frau des Arztes war Anna Göldin nicht wohlgesonnen, zu verschieden waren die beiden Frauen. Anna war unabhängig, gesund, kräftig und eine stattliche Erscheinung, derer sie sich wohl bewusst war.
Frau „Tschudi“, so der Name der sozial weit höher stehenden Familie, kränkelte ständig. Als Sechzehnjährige war sie zum ersten Mal schwanger geworden. Von da an wechselten sich unablässig Schwangerschaften und Geburten ab – zehn Kinder hatte die Arztgattin geboren, von denen fünf überlebten.

Anna ist bereits über ein Jahr bei den Tschudis, als ein banaler Streit der Kinder zum Auslöser für die weiteren tragischen Vorfälle wird, deretwegen die Göldin der Hexerei beschuldigt wird: Eines der Kinder, Anna Migeli, findet eine Stecknadel in ihrer Frühstücksmilch. Was zuerst nicht ernst genommen wird, wiederholt sich immer wieder. Im Oktober 1781 wird Anna Göldin des Hauses verwiesen, wogegen sie sich wehrt. Doch all ihre Versuche, Gerechtigtkeit von den obersten Stellen zu erfahren, scheitern.

Das Wort einer einfachen Magd steht gegen das einer angesehenen Familie. Anna Migeli hat weiterhin Anfälle, Zuckungen, und sie „spuckt Nadeln“. In Windeseile verbreitet sich das Gerücht, dass die Magd für diese eigenartigen Vorfälle verantwortlich sei, zumal bekannt wird, dass Anna Göldin bereits früher wegen Kindsmord angeklagt worden ist: Ihr Neugeborenes war unter der Bettdecke erstickt. Im Prozess gegen einen bornierten, frauenverachtenden Justizapparat hatte die alleinstehende Frau keine Chance. Zumal sich die Angelegenheit zu einer machtpolitischen Auseinandersetzung der ansässigen Provinzgroßbürger auswuchs. Anna Göldin wird im Juni 1782 durch das Schwert hingerichtet.

Der Roman „Anna Göldin – Letzte Hexe“ der Historikerin Eveline Hasler zählt nach über zwanzig Jahren noch immer zu den berührendsten und spannendsten Büchern zum Thema Hexenverfolgung. Er schildert nicht nur die Chronik des letzten Hexenprozesses in der Schweiz, sondern gibt darüber hinaus ein aufschlussreiches Bild der damaligen Zeit, der Gesellschaft und der Stellung der Frau. Der Hexenprozess gegen die Dienstmagd Anna Göldin, einer schönen und eigenwilligen Frau, fand eine große Öffentlichkeit und steht wohl stellvertretend für viele ähnliche Schicksale über die Schweizer Grenzen hinaus.
Eveline Hasler gelingt es anhand von Zitaten aus Gerichtsakten und zeitgenössischen Dokumenten sowie mit der altertümlichen Sprache, in der sie den Roman verfasst hat, die Atmosphäre der damalige Zeit vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen. Sie zeigt auf, dass unter dem Deckmantel des Rechts jegliches Recht missachtet wird. In Zusammenhang mit dem Prozess wurde zum ersten Mal auch der Begiff „Justizmord“ verwendet.
Das Buch vermittelt viel mehr als nur die bewegende Geschichte einer „modernen“ Frau des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Grundthema kann auf andere Epochen bis in die Jetztzeit übertragen werden: Innere Unabhängigkeit von geläufigen Meinungen, Anderssein und Außenseitertum stoßen heute noch auf mangelnde Akzeptanz und werden auf verschiedene Weise bestraft. Frauenverachtung und bürgerliche Selbstherrlichkeit sind auch heute noch anzutreffen.

Mich hat der Roman teilweise tief betroffen gemacht und verstört! Aber ich fand ihn sehr lesenswert.

1 Kommentar:

  1. Da hast du an einem Abend gleich zwei hervorragende Buchbesprechungen geschrieben, danke!

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