Samstag, 18. Juni 2016

Buchbesprechung: Rachel Joyce: Das Jahr das zwei Sekunden brauchte (S.Fischer)

Bedingt durch ein Schaltjahr und andere Momente, war es 1972 nötig, dem Jahr zwei Sekunden hinzuzufügen. Sekunden, die in der kleinen Siedlung in England, in der nach klaren Abläufen und Regeln lebenden Familie von Vater Seymour (unter der Woche in London arbeitend), Mutter Diana, dem 11 jährigen Sohn Byron und dessen kleiner Schwester aber doch die Welt verändert haben.
Alles hat seinen Platz, seinen Ort und seine Zeit. Alles ist geplant.
Der größte Triumph des Vaters ist es, seiner Frau einen „Jaguar“ geschenkt zu haben. Vor allem, damit ihn die „anderen alle“ sehen und bewundern. Um diesen drehen sich auch die meisten Gespräche bei den täglichen „Kontrollanrufen“ Seymours. Verhältnisse, in denen allseits nichts Unkontrolliertes erwünscht ist, selbst das Spielen der Kinder sorgt für Unmut und heftige moralische Reaktionen.
Byron kann diese zwei Sekunden nicht so recht fassen. Seine Fantasie läuft ein um das andere Mal davon und just in dem Augenblick, in dem er meint, zu sehen, wie der Sekundenzeiger seiner Uhr sich rückwärts bewegt, passiert etwas. Glaubt Byron zumindest. Und glaubt seine Mutter dann irgendwann auch. Mit dramatischen, mit schrecklichen Folgen.
 
Eine Geschichte zunächst, in der Joyce sehr intensiv und dicht die unglaubliche Enge des Lebens in dieser gesellschaftlichen Schicht im England von 1972 darstellt. In welcher der Leser fast physisch Widerwillen gegen den oberflächlichen, egomanischen Vater aufbaut, die Entwicklung der Mutter mit Sorge verfolgt und ahnt dass bei ihr etwas in der Vergangenheit war, was niemand wissen darf! Man ahnt bereits, dass da Schlimmes passieren wird. Auch die enge Freundschaft zwischen James und Byron (aus dessen Perspektive heraus Joyce diesen Teil der Handlung erzählt), kann die zunehmende Verzweiflung Byrons nicht auffangen.
 Denn, ist er nicht schuld? Weil er kein Geheimnis für sich behalten konnte? Weil er drängte und drängte gegen alle Versuche anderer, dieses Thema einfach auch zu lassen? Bringt er dadurch nicht erst die ganze Katastrophe ins Rollen??
Was wird mit der Familie in dem Haus in "der Siedlung" nachdem die zwei Sekunden Zugabe vermeintlich so dramatische Folgen hatte?

Parallel dazu beginnt ein anderer Erzählstrang- 40 Jahre später, in der Gegenwart.
Die Geschichte von Jim. Er hat Lücken im Gedächtnis, eine psychiatrische Heimvergangenheit. Er kann ohne seine täglichen ausufernden Rituale noch nicht einmal die Tische im Cafe sauber zu wischen (was seine Arbeit ist). Was aber haben dieser Jim und diese Ereignisse der damaligen Zeit überhaupt miteinander zu schaffen? Was hat es mit den „21 Durchgängen“ von Ritualen auf sich, mit der Leidenschaft des Pflanzens bei Jim?

Joyce entwickelt ihre beiden Geschichten in aller Ruhe und geht den Dingen, vor allem aber den Menschen, auf den Grund. Sie schafft das mit einzelnen Szenen, die berühren und mit Menschen, die keine besonderen Leistungen hervorbringen und trotzdem sich das Wichtigste bewahren, was Liebe und Freundschaft ist. Auf ihre ganz eigene Weise.
Ich war vor allem von Byrons Weg, seinem kindlichen Charakter und seiner Gedankenwelt absolut gefesselt. Sehr berührend fand ich die Tatsache, dass der 11-jährige Junge alles tut, um seine fragile und unglückliche Mutter vor Unheil zu bewahren und sich dabei mit kindlicher Naivität in verschiedene Ängste verläuft. Es ist sehr beeindruckend, wie lebensnah sich die Autorin in Byron hineinversetzen konnte aber noch interessanter, fand ich Dianas Persönlichkeit, die unglaublich authentisch beschrieben wurde. Äußerlich perfekt, merkt der Leser schnell, dass hinter der schönen Fassade, eine leidende Seele schlummert. Diana täuscht die perfekte Idylle vor obwohl sie scheinbar sehr einsam ist.

 Mich haben so manche Szenen sehr bedrückt, die Spießigkeit dieser Zeit und der Gesellschaft und man ahnt die Dramen die sich am Horizont zusammenbrauen, auch wenn man das gerne verhindern würde. Man ahnt dass die Mutter nur verlieren kann in ihrem Bemühen dem allen zu genügen. Und auch dass Bryan daran zerbrechen wird.

Joyce schreibt sprachlich wunderbar und mit einer ganz eigenen Geschwindigkeit des Erzählens, die den an Tempo gewohnten Leser in guter Weise zur Ruhe kommen lassen bei der Lektüre.

Ein hervorragender Roman, den ich nur empfehlen kann.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen